In Hamburg (er)friert die Menschlichkeit
Triggerwarnung: In diesem Beitrag geht es um tote Menschen und darum, dass Regierungsfraktionen Menschen auf der Straße erfrieren lassen.
Als Autor möchte ich ergänzen, dass der Beitrag außerdem emotional verfasst ist, weil mich das Thema persönlich belastet. Er hat nicht den Anspruch auf journalistische Perfektion. Trotzdem habe ich alle Quellen und Nachweise die ich fand am Ende des Beitrags angefügt.
Meine Bitte an die Leser:innen: Betrachtet es als Kommentar.
Schon seit vielen Jahren hege ich eine heimliche Liebe für Hamburg. Der Hafen zieht mich an, die Orientierung nach links und die sozialen Initiativen gefallen mir. Als ich erfahren habe, dass im letzten Jahr die Regierung rotgrün wurde, ließ das mein grünes Herz noch höher schlagen.
Durch einige glückliche Zufälle wurde im letzten Jahr ein kleiner Traum war: ich konnte in diese wundervolle Stadt ziehen. So ging es vom Süden in den Norden und von Bayern nach Hamburg. Politisch gesehen: von schwarz zu rotgrün.
Über Weihnachten habe ich dann allerdings von einer üblen Sache erfahren.
Bis heute sind mindestens 11 obdachlose Menschen auf den Straßen erfroren.
Jeder dieser Menschen ist einer zu viel. Das dachte sich auch die Linksfraktion und stellte den Antrag, diesen Menschen zu helfen und Hotels für sie zu öffnen. Eigentlich ein sogenannter Nobrainer, denn die Hotels stehen durch die Corona-Pandemie leer.
Mit der Aktion wäre also nicht nur den obdachlosen Menschen geholfen, sondern auch den Hotelbetreibern.
An Geld mangelt es auch nicht, wie Melanie Leonhard, Senatorin der Sozialbehörde, in ihrer emotionalen Rede als Teil der Debatte erwähnt.
https://mediathek.buergerschaft-hh.de
Trotzdem passiert das für mich unglaubliche: Die Regierungsfraktion aus Grüne und SPD lehnt den Antrag ab. Die zugehörige komplette Debatte, die unten verlinkt ist, empfehle ich euch liebe Leser:innen gerne. Aber bitte nur falls ihr heute ZU GUTE Laune habt. Denn es ist wirklich schlimm wie da Seitens der SPD und der GRÜNEN debattiert und argumentiert wird. Das tut mir tatsächlich am meisten weh, dass die GRÜNEN den Weg mitgehen.
Freundlicherweise bietet Melanie in dieser Debatte auch an, sie persönlich zu kritisieren und auch verantwortich zu machen ( Bei Zeit: 57:06)
mach ich gern:
Liebe Melanie, Meiner Meinung nach ist das, was du da machst, ziemlich unsozialer Mist, und ich glaub du weißt das auch.
Wie kannst du nur sehenden Auges obdachlose Menschen auf der Straße erfrieren lassen und im selben Atemzug sagen, es läge nicht am Geld? Du bist verantwortlich für diese unnötige Situation.
Aus der Sicht eines (Ex-)Münchner war ich der Überzeugung, Hamburg sei sozialer, linker, weltoffener und freundlicher gegenüber den Menschen, die unsere Hilfe benötigen. Sozialer als andere Städte. Gerade jetzt. Dass die GRÜNEN die ich sehr schätze hier gemeinsam mit der SPD regieren, hat dazu beigetragen, die Stadt noch mehr zu feiern. Denn die GRÜNEN kenne und schätze ich als außerordentlich sozial.
Aber wartet, hier in Hamburg ist das anders denn es wird noch absurder.
In der Debatte spricht sich die CDU zwar für den Antrag aus, stimmt aber dann dagegen. Um wenige Tage später selbst einen ähnlichen Antrag einzureichen. Stellt euch das mal vor.
In Hamburg ist die CDU sozialer als die SPD und GRÜNE Regierung. Mind-blowing oder?
Liebe Melanie: Diese Verweigerung jedweder HALTUNG der Regierung, deiner Behörde und auch deiner Person empfinde ich als Schlag ins Gesicht. Ins Gesicht jedes obdachlosen Menschen, aber auch in das Gesicht jede:r Hamburger:in, die/der sich jetzt in privaten Rahmen dafür einsetzt, dass es eben doch geht.
Denn wieder einmal müssen private Initiativen umsetzen, was meiner Meinung nach eigentlich Aufgabe deiner Regierung wäre.
Tatsächlich hatte ich einige Tage mit diesen neuen Wahrheiten zu kämpfen. Meine Hamburgliebe geriet ins straucheln. Zum Glück nur kurz, denn schnell wurde mir klar, dass zwar die Regierung versagt hat, die Bürgerinnen aber Haltung haben und zeigen. So hat z.B. der FC St. Pauli sich einfach mal dran gesetzt und gemeinsam mit Hamburger:innen ein solches Hotel initiiert.
Wie auch in München ist es auch hier so:
Die Bürger:innen sind es, die die Stadt so toll machen.
Dafür möchte ich allen danken. Auch für das Feedback dass ich von vielen via Twitter bekommen habe, seitdem ich versuche auf diesen Skandal aufmerksam zu machen. Mein Appell und meine Kritik geht daher explizit NICHT gegen die Stadt, sondern gegen die Bürgerschaft, die hier meiner Meinung nach zu wenig Haltung zeigen.
Achso, ihr wollt wissen warum die Regierung sich trotz vorhandenem Geld weigert, die Hotels zu öffnen?
Liebe Melanie: du sagst “ein umfangreiches Beratungsprogramm soll ermöglicht werden” und es gäbe ja außerdem das Winternotprogramm.
Ok, das verstehe ich. Klar. Beratung. Das geht natürlich nicht in Hotels.
ich sags mal so:
Da draußen ist es verdammt kalt. Wir haben eine fucking Pandemie. Es geht jetzt und heute um Gottes willen darum, dass niemand draußen stirbt. Also nicht NOCH jemand, denn 11 sollten reichen oder?
Niemand wirklich niemand braucht hier momentan eine Beratung. Und falls wirklich ein obdachloser Mensch denkt “ach Mist, Hotel ist ja echt nice aber ich hätt jetzt schon gern ne Beratung” – ich denke dann finden wir dafür auch noch eine Lösung oder?
Weiter gedacht: Wie würden denn die Menschen auf der Straße beraten werden wenn keine Pandemie wäre?
Zwar kann ich die Argumentation in sich nachvollziehen, aber im Rahmen der aktuellen Gegebenheiten beim besten Willen nicht verstehen. Es ist nun mal gerade ein Ausnahmezustand, der Ausnahmregelungen erfordert. In München habe ich einmal als Fotograf für ein Stadtmagazin gemeinsam mit einem Redakteur eine Einrichtung besucht und dort mit obdachlosen Menschen gesprochen und dabei erfahren, warum sie denn “auf Platte” leben und sich gegen eine Einrichtung entschieden haben.
Liebe Melanie, als Service für dich gratis von mir hier noch ein paar Punkte die gegen eine Unterbringung in der Obdachlosenunterkunft sprechen:
- Gewalt
- Diebstahl
- Streitereien mit anderen Bewohner:innen
- Mehrbettzimmer (Pandemie!)
- Regeln und Drangsalierung
Es gibt sicherlich viele unterschiedliche Gründe die gegen so eine Unterbringung sprechen. Und auch wenn mein Gespräch in München stattfand, sind einige davon sicherlich auf jede ander Stadt übertragbar. Am relevantesten erscheint mir in der momentanen Lage die Zimmer-Situation. Wir sollen alle Kontakte so weit wie möglich einschränken und lassen dann obdachlose Menschen in Mehrbettzimmer unterkommen? Das ist unverantwortlich.
Liebe Melanie,
freu mich wenn du nochmal drüber schläfst. Und dann morgen aufstehst und sagst.
“ja ok, fuck, ihr habt recht gehabt, ich lag falsch. Lass‘ uns die Hotels aufmachen und Schwamm drüber”.
Liebe Abgeordnete der SPD, dieser Appell richtet sich selbstverständlich an euch alle. Reisst euch mal zusammen und beweist, dass das S in eurem Namen noch Bedeutung hat. Fehler einzugestehen ist kein Zeichen von Schwäche sondern von Stärke- Gerade in diesen Zeiten.
Liebe Abgeordnete der GRÜNEN – von euch bin ich ehrlich gesagt am meisten enttäuscht, weil ich emotional am meisten überrascht und damit bestürzt bin. Weil ich von euch mehr erwartet habe. Auch ohne S in eurem Namen ist mein Herz GRÜN und soll das auch bleiben. Momentan seid ihr für mich nicht wählbar und das ist sehr schade. Auch wenn ihr durch euren Koalitionsvertrag an die SPD gebunden seid, wäre es in einer Situation meiner Meinung nach an der Zeit, Haltung und “Eier” zu zeigen und “nein” zu sagen. Das ist in manchen Fällen sinnvoller und menschlicher als zu klüngeln. DIES ist so ein Fall.-
Danke,
Johannes
Weiterführende Links / Nachweise
Dokumente und Mitschnitte aus der Bürgerschaft
Der Antrag der Linksfraktion:
“Weitere Tote auf Hamburgs Straßen verhindern: Obdachlose Menschen endlich in Hotels unterbringen!”
Der Antrag der CDU Fraktion:
“Bessere Chancen für Obdachlose – Ursache der Todesfälle unter Obdachlosen ermitteln und die erkannten Versorgungslücken im Hilfe-system schließen”
https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/74222/bessere_chancen_fuer_obdachlose_ursache_der_todesfaelle_unter_obdachlosen_ermitteln_und_die_erkannten_versorgungsluecken_im_hilfesystem_schliessen.pdf
Mitschnitt aktuelle Stunde / die Debatte:
“Obdach- und Wohnungslose in Hamburg: Schützt die Menschen endlich vor der Pandemie!”
https://mediathek.buergerschaft-hh.de/sitzung/22/17/#top-3427
Sprungmarke Melanie Leonhard, Senatorin Sozialbehörde https://mediathek.buergerschaft-hh.de/sitzung/22/17/?rede=17571#top-3427
Protokoll mit Abstimmung aus der Hamburger Bürgerschaft:
Nummer 2834 mit den Ergebnissen der Abstimmung
Folge-Anfragen
Kleine Anfrage der Linken Fraktion zum Winternotprogramm
Kleine Anfrage der CDU zur Unterbringung
Artikel
Initiative St. Pauli
https://www.fcstpauli.com/news/projekt-hotelzimmer-fuer-obdachlose-finanziert-acht-hotelplaetze/
Hinz und Kunzt https://www.hinzundkunzt.de/buergerschaft-lehnt-erneut-hotelzimmer-fuer-obdachlose-ab/
neues deutschland
CURT Magazin
“Freiheit und Obdachlosigkeit in München”
https://www.curt.de/nbg/pdf/muenchen/curt67.pdf / Seite 25
Petition bei change.org
“Hotels für Obdachlose öffnen”
https://www.change.org/p/hamburger-senat-hotels-f%C3%BCr-obdachlose-%C3%B6ffnen?redirect=false
Statement von Michael Gwodsz, Grüne Fraktion
Im aktuellen Winternotprogramm sind noch zahlreiche Plätze frei. Hygieneregeln greifen. Für erkrankte, geschwächte und andere spezielle Gruppen gibt es eine Einzelunterbringung, auch ergänzend u.a. in Hotels. Mehr Infos zum konkreten Angebot: https://t.co/dmyEGnumcW
— Michael Gwosdz (@platz13) January 30, 2021
Ausführlicher Thread mit Spendenpool von Lena Richter
Sammelthread zum Thema Obdachlosenunterbringung in #Hamburg.
1. Situation
2. Spendenpool
3. E-Mail-Aufruf— Lena Richter (@Catrinity) January 29, 2021
Autor
Johannes Mairhofer
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