
Unsichtbar und trotzdem da
Wenn man von Menschen mit Behinderung spricht, liest oder hört, hat man meist ein klares Bild vor Augen. Auch für uns waren lange Zeit Menschen mit Behinderungen diejenigen, die im Rollstuhl sitzen oder nicht sehen oder hören konnten. Eben diesen Menschen, denen man eine Beeinträchtigung auf den ersten oder zweiten Blick ansehen kann.
Doch es ist soviel mehr – was wir auch schmerzlich erleben und feststellen mussten.
Diese Zeilen sind ein persönlicher Erlebnisbericht von Eltern. Wir wollen zeigen, dass eine Behinderung nicht immer mit Äußerlichkeiten einhergeht. Zeigen, dass man nicht alleine ist, auch wenn man es oft glaubt und es soll vor allen Dingen Mut machen. Mut zu kämpfen, Mut,wieder aufzustehen , auch wenn wieder einmal der Boden unter den Füßen wegzubrechen droht. Aufgeben ist keine Option!
Wir sind Eltern zweier super toller Söhne. Jeder auf seine Art und Weise. Der Große mit seinen 15 Jahren mitten in der Pubertät und dennoch unendlich gerecht und sozial – und der acht Jahre jüngere Bruder. Vor acht Jahren spielten Worte wie Behinderung, Krankenhausaufenthalte und Therapien keine Rolle in unserem Familienleben. Wir hatten ein Grundschulkind und freuten uns auf den Zuwachs.

9 Monate Schwangerschaft ohne nennenswerte Probleme, die angedeutet hätten, sich unser Leben mit der Geburt des Jüngsten ändern würde.
Klar ändert sich Einiges mit Nachwuchs. Es kommen Nächte ohne Schlaf hinzu, Kuscheleinheiten auf dem Sofa, lange Spaziergänge mit dem Kinderwagen an der frischen Luft und viele schöne Momente als Familie mit einem Neugeborenen.
Auch wir haben all diese Sachen erlebt, aber immer etwas intensiver oder weniger.
Die ersten Tage nach der Entbindung zu Hause in der gewohnten Umgebung, die Zeit wo sich Eltern und Kind kennenlernen, wo Verwandte und die engsten Freunde zu Besuch kommen, um den Neuankömmling herzlich zu begrüßen, die kennen wir nur von dem Großen. Unsere ersten Tage bestanden aus Angst, Sorge, Unsicherheit. Noch am Abend der Entlassung standen wir wieder in dem Krankenhaus, in dem unser Sohn das Licht der Welt erblickte. Er war gelb. Die Ärzte sagten uns “das ginge wieder weg”. Frühkindliche Gelbsucht, die Werte alle noch im “Normalzustand”. “Sie können nach Hause gehen.” Mit einem komischen Gefühl leisteten wir dem Folge. Die erste Nacht zu Hause war unruhig. Ständig schauten wir nach dem Kleinen. Irgendwie war das innere Gefühl da, zu schauen, ob er noch atmet. Unbeschreiblich. Und die Tage danach bestätigten unser Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Schon am folgenden Tag war ein Brief im Briefkasten. Den Tag werde ich nie wieder vergessen, denn es ist der Tag, der unser Leben in andere Bahnen gelenkt hat. Wir wurden von dem ansässigen Uniklinikum um Rückruf gebeten. Es ging um ein Neugeborenenscreening, welches wir am dritten Tag nach der Entbindung aus dem Fersenblut unseres Sohnes durchführen lassen konnten. Damals dachten wir: “Klar lassen wir das machen, warum auch nicht?”.
Kein Gedanke beschäftigte sich damit, was es bedeuten könnte, wenn wir einen Anruf bekommen, dass die Werte auffällig seien. Und ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, ob das einen Unterschied gemacht hätte. Was mir aber klar ist: es war die beste Entscheidung diesen Untersuchungen zuzustimmen. Ohne diese Untersuchungen und die Aufklärung nach den Ergebnissen würde unser Sohn heute vermutlich nicht mehr leben.
Jetzt kann ich das einfach schreiben, aber es gibt auch Tage, an denen ich denke, ich hätte all diese Sachen gar nicht wissen wollen. Aber es ist nicht richtig die Augen zu verschließen. Bei unserem Sohn wurde eine Fettstoffwechselstörung festgestellt. Sie wird nie weggehen und ist durch uns beide vererbt. Im Klartext bedeutet es für unseren Sohn: er muss immer auf seine Ernährung achten und auch darauf, ausreichend Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Sein Körper kann nur eine ganz geringe Menge an Fetten zur Gewinnung von Energie nutzen. Stehen ihm keine Kohlenhydrate zur Verfügung, gerät er in eine Stoffwechselkrise. Diese sogenannte Entgleisung kann über Hirnschäden bis hin zum Tod führen, wenn nicht schnell genug reagiert wird. Was es die ersten Jahre für uns bedeutet hat, ist fast unbeschreibbar. Das Uniklinikum hat am Anfang versucht, uns alles so klar und so schonend wie möglich zu erklären. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass es von Termin zu Termin weniger zu ertragen ist. Aus dem ersten Gespräch sind wir mit der Handlungsanweisung, einer Diagnose, Notfallpass und viel Unsicherheit gegangen.
Klar haben wir verstanden, dass unser Junge alle zwei Stunden Muttermilch braucht, egal ob er schläft oder nicht. Um zu überleben, ist die Zufuhr von Nahrung in kleinen Zeitfenstern unumgänglich. “Okay, das schaffe ich”, dachte ich mir. Es bedeutet dauermüde, aber ich schaffe es.
Der nächste Termin mit der endgültig bestätigten Diagnose folgte wenige Tage später. Die Hoffnung, dass es sich um eine Verwechslung handeln könne oder sich alles eingependelt hat und die Werte sind nun in Ordnung, war sehr groß. Aber sie wurde uns genommen. Es folgten neue Informationen. Ich habe damals gedacht, ich werde das alles nie verstehen – und doch tat ich es. Zu dem Zeitpunkt war unser Sohn keine Woche alt und hatte bereits zwei Kliniken und viele Ärzte gesehen. Wenn ich so zurückdenke, war der zweite Termin in der Stoffwechselambulanz einer der wenigen, die mich innerlich sehr aufgewühlt haben.
Beim Durchchecken fiel der Ärztin das Auge unseres Sohnes auf. Iriskolobom! “Keine Sorge das ist eine Anomalie, es kommt selten vor, aber es kommt vor.” Uff, wir hatten ja nun schon eine bestätigte seltene Stoffwechselerkrankung, warum also nicht noch mehr? Das war nicht alles. Neben einer Narbenhernie (Nabelbruch) konnte sie noch ein Ohranhängsel feststellen. Alle diese Anomalien standen in keinem Zusammenhang zu der genetischen Erkrankung. Behutsam versuchte sie uns klarzumachen, dass nun weitere Untersuchungen erfolgen müssen. Es musste ausgeschlossen werden, dass es weitere Anomalien an den inneren Organen gibt. All diese Worte rauschten nur so an mir vorbei. Von einen auf den anderen Moment riss es mir den Boden unter den Füßen weg!
Die nächsten Tage und Wochen funktionierten wir nur noch. Wir hatten eine Arzttermin nach dem nächsten. Hier ein Bauchsono, dort ein Herzecho. Wie gerne hätte ich sorgenlos auf dem Sofa gelegen und mit meinem kleinen Sohn einfach nur gekuschelt. Die so wertvolle erste Zeit genossen. Ihn beobachtet, wie er Stäubchen hat, lange Spaziergänge gemacht… Doch dafür blieb uns keine Zeit. Es war eine Zeit voller Stress, Schlafmangel und in erster Linie Angst. Angst vor Ergebnissen, Angst vor neuen Arztterminen, Angst vor der Zukunft.
Es war eine schreckliche Zeit, in der ich mich oft alleine gefühlt habe. Ich war nie alleine, aber so hat es sich dennoch angefühlt. Kein halbes Jahr nach der Entbindung folgte unser erster Krankenhausaufenthalt. Ich hatte viel gelesen über die Krankheit und die möglichen Folgen. Bei manch einer Begegnung mit einem Arzt wusste ich mehr darüber als er. Der Ablauf in der Notaufnahme gab mir das Gefühl von Sicherheit. Die Pflegekräfte haben direkt Kontakt mit der behandelnden Ärztin aufgenommen. Alles lief reibungslos. Da unser Sohn bereits erbrochen hatte und nix mehr zu sich nahm, folgte die Intravenöse Versorgung mit hochprozentiger Glukose und Elektrolyten. Schnell rappelte sich der kleine Mann wieder auf. Es folgten in den Monaten danach immer wieder kurze Einweisungen.
Die Abstände wurden kürzer.
Nach nicht mal einer Woche Zuhause die nächste Einweisung. Wieder Magen-Darm. Diesmal leider nicht so unkompliziert wie die erste.
Wir mussten auf eine andere Station da die für ihn angedachte voll war. Die Ärztin in Ausbildung war mit der Krankheit unseres Sohnes nicht vertraut und auf meine Aussagen hörte sie nicht.

Wieder bekam er eine intravenös Glukose, doch diesmal reichte das nicht aus. Von Stunde zu Stunde ging es dem Jungen schlechter. Er war kaum noch ansprechbar. Ich konnte nichts machen außer an seinem Bett stehen und die kleinen Händchen zu halten und zu hoffen. Immer wieder versuchte ich der Ärztin klar zu machen, dass die Glukose zu niedrig angesetzt ist. Dass das Augenmerk nicht auf Flüssigkeitsmenge/Ausgleich liegt, sondern auf dem Zuckerhaushalt. Es war mitten in der Nacht und kein anderer Arzt in der Nähe. Ständig gingen die Venen zu, es mussten neue Zugänge gelegt werden. Die kleinen Füße und Händchen waren schon alle blau und zerstochen. Ich war am verzweifeln. Seine Schreie bei jeder neuen Kanüle werden mir immer im Ohr bleiben. Die Blutzuckerwerte verschlechterten sich ebenfalls und endlich griff eine beherzte Schwester ein und veranlasste auf ihr Risiko eine Blutgasanalyse. Sie behielt Recht: die Werte waren so schlecht, dass sofort gehandelt werden musste. Noch nie zuvor hatte ich soviel Angst. Unser Sohn bekam einen zweiten Zugang mit mehr Glukose gelegt und man konnte zusehen, wie sich sein Gesundheitszustand von Minute zu Minute verbesserte.
Nach über 3 Wochen Station war endlich ein Ende abzusehen. Zumindest dachten wir es. Ein paar Tage zuvor bekamen wir einen Zimmergenossen. Beide Jungs verstanden sich gut und spielten zusammen. Und dann, auf einem Schlag – wir wollten gerade in den Klinikgarten spazieren gehen und Papa und Bruder treffen – erbrach er wieder so heftig, dass wir nicht raus gehen durfte. Gefühlt binnen Minuten entwickelte er hohes Fieber und behielt nichts mehr im Körper. Die Venen waren so zerstochen, dass es schwer war einen Zugang zu legen. Eine hatten sie noch, doch diese Vene drohte zu platzen.
‘Nun waren die Angst und die Sorgen wieder da. Die Vene reichte nicht aus. Es musste eine Nasensonde gelegt werden. Ich habe so etwas vorher noch nie gesehen, geschweige denn mich damit befasst. Nun lag er wieder in seinem Gitterbett am Tropf mit einer Kanüle, die an einer Vene im Kopf hing und einer Nasensonde. Zu diesem Zeitpunkt war ich mir nicht mehr sicher, ob wir hier wieder gemeinsam rauskommen werden.
Die Werte stabilisierten sich durch die Infusion, doch der Kostaufbau war schwierig und so vergingen wieder Tage und Wochen mit Bangen um unseren Jungen.
Aber hat es geschafft, geschafft weil er gekämpft hat und nicht aufgegeben hat und weil wir gekämpft haben und den Mut und die Hoffnung nicht aufgegeben haben.
So vergingen die ersten Jahre seines Lebens mit immer wiederkehrenden Krankenhausaufenthalten. Immer wieder gab es Rückschläge: Blockaden in der Wirbelsäule, Physiotherapie, da er den Kopf nicht alleine halten konnte, er krabbelte und robbte nicht und lief nicht los. Immer mehr wurde uns bewusst er ist anders als andere gleichaltrige Kinder. Aber dennoch wirkte er für die anderen “normal”
Doch als dann die Kinderärztin feststellte, dass er nicht altersgerecht entwickelt sei und Sprachauffälligkeiten habe, eine selbst entwickelte Zeichensprache nutzte, schien es so, als würde der Boden unter den Füßen erneut zusammenbrechen. Ich wollte das alles nicht hören, wollte davon nichts wissen. Er ist mein Sohn, er braucht nur etwas länger. Na und!
Aber nein, so einfach ist es nicht und so einfach sollte man es sich nicht machen. Man sollte den Kampf aufnehmen und das Bestmögliche daraus machen. Für uns bedeutete der Kampf erneut viele Termine bei Ärzten und Therapeuten. Der kleine Mann entwickelte immer mehr eine Abneigung gegen alles was den Anschein eines Arztes machte und machte es uns damit umso schwerer. Hier Ohrenarzt, dort Logopädie da SPZ Sozialpädiatrisches Zentrum.
Gefühlt haben wir bisher mehr Krankenhausspielplätze und Ärzte gesehen als Spielplätze und Kinder. Manchmal weiß ich nicht was anstrengender ist: die ganzen Termine oder die Verhaltensauffälligkeiten – oder das Gefühl, dass ich ihm nicht helfen kann.
Verhaltensauffälligkeiten äußern sich in Wutausbrüchen, aber auch im Gegenteil davon: Im Klammern. Das eingeschränkte Schmerzempfinden, was dafür sorgt, dass er sich verbrüht oder er Gefahren nicht einschätzen kann und seine Kraft nicht richtig einteilen kann. Alle diese Dinge sind von außen auf den ersten, zweiten und auch dritten Blick nicht zu erkennen. Dennoch haben wir uns entschlossen einen Behindertenausweis für ihn zu beantragen.
Für mich als Mutter war dieser Schritt der schwerste, den ich je gegangen bin. Einen Antrag auf einen Schwerbehindertenausweis und einen Antrag auf Pflegestufe zu stellen. Denn damit musste ich mir eingestehen, dass er anders ist und dass nicht nur aufgrund seiner Stoffwechselerkrankung.
Menschen mit Behinderung sind viel mehr als ein Rollstuhl. Es ist noch immer ein gesellschaftliches Problem, dass Behinderung immer mit äußerlichen Merkmalen assoziiert wird.
Mir ist dies in den Jahren mit meinem Sohn klar geworden: Ich schaue auch ein zweites oder drittes Mal hin bevor ich mir eine Meinung bilde. Oft habe ich erlebt wie andere sich umdrehen und sich lautstark unterhalten, wenn mein Sohn mit mir spricht oder seine Gefühle nicht unter Kontrolle hat.
Nicht immer steckt eine Fehlerziehung dahinter. Sofern man sich überhaupt das Recht rausnimmt, über Fehler in der Erziehung zu urteilen.
Nicht nur Menschen mit Behinderung brauchen eine Stimme: auch deren Angehörige und Familie, denn für sie ist das Leid genauso schwer zu ertragen wie für Betroffene selbst. Unser Kind kommt in ein Alter, wo er versteht und spürt, dass es anders als andere ist. Auch dadurch, dass sein einziger Freund jetzt eingeschult wurde und unser Sohn mit 7 Jahren der Älteste in der Kita ist. Und ja, manchmal zerreißt es mir das Herz und es macht mich unendlich traurig und dennoch stehe ich jeden Tag auf, um für ihn und uns als Familie zu kämpfen.
Es ist keine Schande, eine Behinderung zu haben oder Sachen zu beantragen, die einem aufgrund der Beeinträchtigung zustehen. Also Pflegegrad/Pflegegeld noch Behindertenausweis.
Zum Schluss möchte ich noch sagen: so beschissen der ein oder andere Tag ist und auch die Situation, so sehr bin ich auch dankbar. Dankbar für so einen tollen liebenswerten Jungen. Über jede Minute, die wir gemeinsam lachen und Zeit verbringen können.
Mit der Geburt unseres zweiten Sohnes haben wir eine andere Seite des Lebens und der Gesellschaft kennengelernt, die ich nie eintauschen möchte. Vieles versteht man erst, wenn man selbst betroffen ist. Auch das mussten wir lernen.
Es wird noch weitere Tage geben, die uns schlaflose Nächte bereiten. Traurigkeit, Ratlosigkeit und dennoch werden wir immer wieder aufstehen und kämpfen. Kämpfen für unseren Sohn – aber auch Gesicht zeigen für Menschen mit Behinderungen, die nicht äußerlich erkennbar sind. Jeder Einzelne ist es wert.
Dir gefällt unsere Arbeit?
Dann unterstütze uns dabei, weiter zu machen!
Direkt über die Bank:
IBAN: DE43 8504 0000 0201 6442 00
BIC: COBADEFFXXX
Commerzbank

Betterplace
PayPal
