TAGEBUCH DER SOZIALBETREUUNG 1 von X
Fangen wir als Erstes doch gleich mal mit einem aktuellen Erlebnis an.
Es ist Montag und das Wochenende liegt hinter uns. Die Situation rund um Covid-19 hat sich etwas entspannt, es gibt weitreichende Lockerungen sowie Öffnungen der Läden, der Behörden, der Schulen und der Kindergärten.
Auch wir merken diese Lockerungen, bestand unsere Arbeit in den letzten Wochen doch maßgeblich darin, den Klient*innen die aktuellen Bestimmungen und Einschränkungen zu erläutern, zu erklären und die Konsequenzen bei Nichteinhaltung in telefonischer Absprache mitzuteilen. Jetzt klingelt nunmehr das Telefon zur Terminabsprache für eine persönliche Beratung.
Schon in der vergangenen Woche legte ich Termine auf den heutigen Tag. Es könnte ein anstrengender, aber auch schöner Tag werden, persönliche Beratungen empfinde ich wesentlich angenehmer als telefonische Beratungen.
Inzwischen ist es Zeit für den ersten Termin an diesem Tag. Nur mit Mund- und Nasenschutz können wir an einem gemeinsamen Tisch sitzen und uns unterhalten. Herr O. bat um einen Termin, da er seit Januar keine Leistungen mehr bekommt. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Vor zirka einem Jahr hatten wir schon einmal zusammengearbeitet. Damals ist er aus einem anderen Landkreis zu uns in die Stadt gezogen, er kam aus einem Wohnheim für unbegleitete Minderjährige. Nachdem er volljährig wurde, musste er dort ausziehen. Er fand eine Wohnung – was er allerdings nicht verstand war die Beantragung von Leistungen beim hiesigen Jobcenter, denn mit der Volljährigkeit war er auch nicht mehr Leistungsberechtigt über das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe). Nach mehreren gemeinsamen Terminen bei dem zuständigen Jobcenter bekam er seine Leistungen rückwirkend ausgezahlt, somit wurden die entstandenen Miet-, Strom- und anderweitige Schulden beglichen. Von dem Rest des Geldes suchten wir Mobiliar für seine Wohnung, in der er seit nunmehr drei Monaten lebte, ohne Küche, Bett oder Waschmaschine. Einfach ohne alles.
Bei unserem letzten Treffen schauten wir gemeinsam, inwieweit noch Hilfebedarf bestand. Damals war er der Meinung er sei jung, habe eine Wohnung mit Bett und Co. und nun auch Arbeit über eine Arbeitsvermittlungsfirma auf dem Bau als Helfer. Seiner Meinung nach benötigte er keine weitere Hilfe. Als ich hörte, dass eine Arbeitsvermittlung mit im Spiel war, war mir gleichzeitig auch irgendwie klar, dass wir uns wiedersehen werden. Wir zwingen niemanden unsere Hilfe anzunehmen.
Knapp ein Jahr später sitzen wir uns wieder gegenüber. Mittlerweile sind fünf Monate vergangen seitdem er nach seinen Angaben kein Geld vom Jobcenter mehr erhält. Mich interessiert aber auch wie es ihm geht, was er das Jahr über gemacht hat und wie es zu der Kündigung kam.
Herr O. meint es ging ihm gut, er hatte sich gut in der Stadt eingelebt und Anschluss an die hier ansässige Community gefunden. Warum er die Kündigung erhalten hat kann er mir nicht beantworten. Verwundert bin ich nicht – oft kommt es vor, dass Klientinnen durch Zeitarbeitsfirmen in Arbeit vermittelt und daraufhin ohne Vorwarnung und Begründung gekündigt werden. Auch hat die Vergangenheit gezeigt, dass sich wenige Arbeitsvermittlungen mit Klientinnen auseinandersetzen und ihnen erklären weswegen es eine Kündigung gab. Meist erklären sie noch nicht mal, dass sie sich bitte an das Jobcenter wenden sollen. Solche Fälle machen mich immer wieder wütend.
Ich setzte die Priorität darauf, zu schauen wo das Problem liegt, weshalb er seit Monaten keine Leistung bekommt. Anschließend werden wir einen Hilfeplan für die nächsten zwei Monate erstellen. Nach einem Anruf bei dem Jobcenter wird klar, dass Herr O. noch viel Hilfe braucht um unser System zu verstehen. Die Mitarbeiterin teilt mir mit, dass er keinen neuen Antrag gestellt hat und lediglich nach drei Monaten ohne Arbeit die Kündigung beim Jobcenter eingereicht hatte. Der Arbeitgeber wurde seitens des Jobcenters im Bezug auf Herrn O. angeschrieben, bis Dato gab es keine Rückantwort. Dies bedeutet wiederum, dass derzeit keine Leistungen berechnet werden können. Zusätzlich wird ein Ablehnungsbescheid von der Agentur für Arbeit benötigt, um den Leistungsanspruch prüfen zu können. Um einen Ablehnungsbescheid zu erhalten, muss die Arbeitgeberbescheinigung vorliegen und der Antrag auf Arbeitslosengeld 1. All diese Sachen waren Herrn O. nicht bekannt.
In dem Hilfeplan legen wir die Aufgabenverteilung fest, sowie die Ziele, die er erreichen möchte. Mein Ziel ist es, ihm unser System noch ein Stück näher zu bringen und ihn an andere Beratungsmöglichkeiten und Hilfsangebote heranzuführen, damit er in Zukunft nicht mehr Monate wartet, bis sich der Berg für ihn als nicht mehr überwindbar gestaltet. Der Weg zu diesem Ziel wird nicht in ein, zwei Wochen erreicht sein, aber die ersten Schritte gehen wir heute gemeinsam indem wir die Anträge auf Arbeitslosengeld 1 sowie vorsorglich auf ALG 2 ausfüllen. Heute ist die Zeit sehr knapp, sodass ich die Anträge ausfülle und ihm mitgebe. Bei den nächsten Treffen bei denen Formulare ausgefüllt werden müssen wird er sich langsam daran tasten, diese selber ausfüllen zu können. Kurz vor dem Verabschieden fällt mir auf, dass seine Aufenthaltserlaubnis demnächst erlischt. Er ist relativ selbstständig, weswegen ich ihn bitte, bei unserem nächsten Termin in einer Woche einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mitzubringen.
Man könnte meinen nach einer Stunde Beratung hat man nun Zeit für den/die nächste(n) Klientin, aber dem ist nicht so. Nun heißt es für mich unser Gespräch zu protokollieren, damit ich alle Informationen und Absprachen zum Nachlesen habe. Doch bevor ich damit anfangen kann, muss der gesamte Raum noch einmal desinfiziert werden. In der Regel habe ich ca. 2 Stunden mit dem Klienten verbracht und der Nächste wartet schon. Kein Problem, das Mittagessen hat ja noch etwas Zeit, aber ein Kaffee muss jetzt trotzdem sein. Gedanklich muss ich Herrn O. jetzt beiseite schieben, um einen klaren Kopf zu haben für den nächsten warteten Klienten. Auch wenn es mir schwer fällt, denn so richtig helfen konnte ich ihm heute kurzfristig nicht – er ist ohne Leistung gekommen und musste ohne Leistung gehen. Zeit, um länger darüber nachzudenken, habe ich aber nicht. Herr A. wartet bereits auf mich. Diese Beratung wird nicht lange dauern, denke ich mir. Er und seine Frau mit den Kindern sind schon lange in meiner Betreuung. Sie befinden sich nach Jahren noch immer im Asylverfahren. Familie A. hat nunmehr 5 Kinder, eins von ihnen lebt in einer Jugendeinrichtung. Der Jüngste ist vor 3 Wochen auf die Welt gekommen und genau darum geht es in der heutigen Beratung. Herr A. spricht schlecht Deutsch, da er keine Aufenthaltserlaubnis besitzt und damit nicht für einen Integrationskurs berechtigt ist. Er kommt aus einem der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten, was ein Problem darstellt dabei, einen Deutschkurs zu finden. Einige Zeit war Herr A. auf dem Bau arbeiten, durch die fehlenden Deutschkenntnisse wurde die Beschäftigung jedoch gekündigt. Einfach den Arbeitsplatz wechseln funktioniert nicht, denn für jede neue Arbeitsstelle benötigt er eine erneute Arbeitserlaubnis der Ausländerbehörde – sehr bürokratisch. Seine Frau ist gelernte Schneiderin. Sie spricht noch weniger deutsch und kümmert sich ausschließlich um die Kinderbetreuung. Herr A. benötigt einen Termin auf dem Standesamt zur Beurkundung der Geburt seines Kindes. Diesen Anruf werde ich erledigen damit nichts schief geht. Es ging schnell: Noch in dieser Woche soll Herr A. mit seiner Frau, den Papieren und einem Dolmetscher im Amt vorbeikommen. Wenn die Familie den Auszug aus dem Geburtenregister erhalten hat, können wir das Baby bei der Ausländerbehörde, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und beim Sozialamt anmelden, erst danach bekommt die Familie Leistungen für das Kind. Windeln, Essen und Co. benötigt es jetzt schon und muss von den minimalen Asylbewerberleistungen versorgt werden. Eines der Kinder besucht einen Sportverein. Da der Weg dorthin sehr weit ist, möchte die Familie, dass das Kind nicht mehr dorthin geht. Ich soll eine Kündigung schreiben. Klar ist es den Eltern überlassen wie sie ihr Kind erziehen, in welchen Verein sie ihre Kinder stecken, aber ich vertrete nicht nur den Vater oder die Mutter, ich bin für die gesamte Familie da. Dem Sohn gefällt es in dem Verein und sein Wunsch ist es weiter dorthin gehen zu dürfen. Um die Kündigung schreiben zu können benötige ich noch einen Brief welcher zu Hause liegt. Das ist für mich die Chance, bei dem nächsten Termin einen Dolmetscher zu bestellen und mit den Eltern noch einmal den Wunsch des Kindes zu besprechen, um möglichst eine Lösung zu finden mit der am Ende die gesamte Familie zufrieden ist. Noch vor der Verabschiedung und Terminvereinbarung klingelt mein Telefon. Es ist die Schule eines Kindes dessen Familie ebenfalls bei mir in Betreuung ist. Ich gehe ran und bitte die Schule darum, in 10 Minuten zurückzurufen. Für die Lehrerin am anderen Ende der Leitung ist das diesmal kein Problem. Es gibt Tage an denen sie sofort mit einem sprechen wollen. Zurück zu Herrn A. – Wollte ich noch etwas mit ihm besprechen oder nur noch einen neuen Termin ausmachen? An stressigen Tagen kommt es vor, dass man in kürzester Zeit etwas vergisst. Wir bleiben, falls er oder ich noch etwas benötigen, mobil im Kontakt. Üblicherweise folgt nun das protokollieren, doch erst rufe ich die Schule zurück. Sie bitten mich, mit der Familie B. Kontakt aufzunehmen und ihnen nochmals zu erklären, dass, sollte das Kind am nächsten Tag nicht alle Zettel mit Unterschriften dabei haben, es nicht am Unterricht teilnehmen dürfe. Die Schule benötigt dringend die unterschriebene Bescheinigung, dass alle im Haushalt lebenden Personen symptomfrei sind. Das wird nun meine hoffentlich letzte Aufgabe vor der Mittagspause sein. Während des Mittagessens im Freien treffe ich Klientinnen, die unbedingt mit mir sprechen wollen. Ich erkläre ihnen, dass ich Pause mache und diese dringend benötige, ich mich aber bei ihnen melden werde.
Mein Handy klingelt erneut, es ist Frau N. An ihrer Stimme höre ich, dass etwas nicht stimmt und versuche sie zu beruhigen. Sie bittet mich, sofort zu kommen und ihren nicht bei ihr gemeldeten Mann aus der Wohnung zu werfen. Er drohe ihr wohl Gewalt an. Für mich gar keine Frage, ich mache mich sofort auf den Weg. In meinem Kopf schießen viele Gedanken umher: Werde ich die Polizei benötigen? Komme ich rechtzeitig an? Wird alles zum Guten ausgehen? Bei ihr angekommen machen mir zwei ihrer sechs Kinder die Tür auf. Es ist ruhig, es ist kein Geschrei zu hören und die Tür zum Wohnzimmer ist verschlossen. Frau N. hält sich mit den Kindern in zwei der vier Räumen auf. Sie erzählt was im Vorfeld passiert ist. Ich kenne ihren Mann – bei Hausbesuchen ziehe ich ihn mit in die Beratung ein, daher sind wir uns nicht fremd. Auch er ist etwas aufgebracht und lässt sich nur schwer beruhigen. Ich bitte ihn, dem Wunsch seiner Frau nachzukommen und zu gehen, auch damit die Kinder Ruhe finden. Er möchte nicht gehen, gibt an, dass er kein Geld hat und er erst in einer Woche gehen würde, sobald er wieder seine Leistungen erhalten hat.
Ich stehe mit meinen Gedanken völlig zwischen den Stühlen. Was ist jetzt der richtige Weg?
Doch einen richtigen Weg wird es nicht geben, für den Moment muss aber eine Lösung her.
Ich erkläre beiden getrennt voneinander was es für Möglichkeiten gibt. Meiner Klientin schlage ich auch die Möglichkeit der Polizei vor. Am Anfang stimmt sie zu, aber in dem Moment als ich die Polizei informieren möchte ändert sie ihre Meinung und bittet mich darum die Polizei nicht einzuschalten. Sie wird mit den Kindern für eine Woche die Wohnung verlassen und er soll an dem Tag an dem er die Leistung bekommt die Wohnung räumen.
Zufrieden bin ich am Ende nicht, darum geht es allerdings nicht. Frau N. muss zufrieden und die Kinder in Sicherheit sein. Somit helfe ich ihr beim Koffer packen und Kinder fertig machen. Mein Arbeitstag ist mit diesem „Fall“ für heute abgeschlossen. Es fällt mir sehr schwer, den Kopf auszuschalten und nicht an den heutigen Tag zurück zu denken.
Frau N. wird mich noch die ganze Woche begleiten, und das nicht nur gedanklich.
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